Das Seminar
für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen hat die Büchner-Preis-Rede von
Rainald Goetz sowie die zugehörige Laudatio von Jürgen Kaube zur „Rede des
Jahres 2015“ gewählt. Das Institut zeichnet damit zwei sprachlich brillante
Redebeiträge aus, die die Tradition der Festrede kunstvoll hintertreiben und
ihr gerade damit neues Leben einhauchen und ihr zu neuer Wirksamkeit verhelfen.
Beide Reden bilden eine komplexe Einheit: die eine Rede umspielt die andere auf
feinsinnige und differenzierte Art und Weise, weshalb zum ersten Mal in der
Geschichte der „Rede des Jahres“ ein Reden-Doppel ausgezeichnet wird.
Das Jahr 2015
war dominiert durch Trauerreden- und Krisenrhetorik: Terror in Paris, der
Absturz der Germanwings-Maschine und die Griechenland-Krise dominierten das
politische Geschehen und die gesellschaftliche Diskussion in Deutschland.
Rainald Goetz setzt solchen Krisen-Reden ein Lob der Jugend entgegen sowie die
Forderung nach beständiger Revolution und kritischer Wachheit.
Goetz denkt
intellektuell scharfsichtig darüber nach, wie Literatur heute aussehen sollte,
welche Rolle ein Schriftsteller in der Gesellschaft einnehmen kann und welche
Funktion eigentlich Kulturpreise haben. Seine Ausführungen faszinieren von
Beginn an durch eine verknappte, antithetische Sprache der Übersteigerung und
ihre gedankliche Originalität. Schnell wird klar, dass es dem Redner nicht nur
um den Kulturbetrieb geht, sein Thema ist vielmehr die „gigantische
Kaputtheit“, die „entsteht „aus lauter kleinen schlechten Erfahrungen, die man
dauernd mit sich selbst und anderen macht“. Die Rede oszilliert damit um
die große Menschheitsfrage: „Wie sollen wir leben?“, auf die Goetz am Ende
seiner Rede, die von den Medien mit großer Aufmerksamkeit bedacht wurde,
überraschender- und originellerweise mit einem Song der Wiener Indie-Band
Wanda antwortet: „Wenn jemand fragt, wofür du stehst sag: Für AMORE, Amore“.
Ein überzeugender Appell an die Jugend und das Leben in Zeiten von Krisen und
Terror und eine Rede, wie man sie seit Thomas Bernhards legendärer Preisrede
aus dem Jahr 1970 in Darmstadt nicht mehr gehört hat.
Dabei war die
diesjährige Verleihung des Büchner-Preises schon mit der Laudatio von
FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube zu einem rhetorischen Event geworden. Mit
spielerischer Freude und hellwachem Verstand arbeitete der sich an Rainald
Goetz ab. „Lob ist schlecht“, das Zitat von Goetz bildet den überraschenden
Auftakt der Laudatio, die die Unmöglichkeit des Lobs reflektiert, denn Goetz
habe doch klar erkannt: „Lob erniedrigt die Welt des Gelobten, wie auch den
Lobenden“, weil an die Stelle von Analyse und Argument bloße Zustimmung trete.
Trotzdem gelingt Kaube ein Lob, das kraftvoll ist, ohne den Lobenden oder den
Gelobten in diesem Sinne zu düpieren, indem er über die Gattung Festrede
nachdenkt und zeigt, welch hohe Bedeutung Rede und Gegenrede in der Welt von
Rainald Goetz haben. Kaube gelingt eine kritische Reflexion über die
Wirkungsmechanismen von Rede und das kritische Potential der Rhetorik von
großer intellektueller Schärfe und sprachlicher Finesse. Fast nebenbei macht er
sich für eine Literatur jenseits der Fiktion stark, erklärt den „Unwillen zur
Fiktion“ bei Goetz durch die Rückbindung der Literatur an das Leben. Zwar heißt
es bei Goetz: „Lob ist schlimmer als Lüge“, aber für ein Lob, das so
reflektiert und so vielstimmig, so sprachkritisch und so sprachmächtig ist wie
das aus dem Munde von Jürgen Kaube, gilt dieser Vorbehalt sicher nicht.
Beide Reden
bilden letztlich eine Einheit, sie spielen sprachlich in einer Klasse, sind
rhetorisch hoch reflektiert, differenziert und aktualisieren die Gattung
Festrede. Goetz und Kaube stehen für eine zeitgemäße Rhetorik und sind
faszinierend, motivierend und provozierend in einer Weise, wie es nur wenigen
Rednern und Reden gelingt.
Die
Auszeichnung „Rede des Jahres“ wird seit 1998 vom Seminar für Allgemeine
Rhetorik der Universität Tübingen vergeben und ging seitdem unter anderem an
Marcel Reich-Ranicki, Joschka Fischer und Papst Benedikt. Mit diesem Preis
würdigt das Seminar für Allgemeine Rhetorik jährlich eine Rede, die die
politische, soziale oder kulturelle Diskussion entscheidend beeinflusst hat.
Neben das Kriterium der Wirkungsmacht treten bei der Auswahl weitere
Bewertungsmaßstäbe wie argumentative Leistung und stilistische Qualität der
Rede. Ziel ist es, das gesamte rhetorische Kalkül des Redners zu betrachten und
zu bewerten.
Jury: Pia
Engel, Dr. Gregor Kalivoda, Prof. Dr. Joachim Knape, Sebastian König, PD Dr.
Olaf Kramer, Severina Laubinger, Frank Schuhmacher, Fabian Strauch, Viktorija
Romascenko, Prof. Dr. Dietmar Till, Peter Weit und Dr. Thomas Zinsmaier
Texte der
Reden:
Jürgen Kaube:
http://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/rainald-goetz/laudatio
Rainald Goetz: http://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/rainald-goetz/dankrede
Tondokument:
Kontakt:
PD Dr. Olaf
Kramer
Universität
Tübingen
Seminar für
Allgemeine Rhetorik
Tel.: +49
7071 29-74256
Mobil: +49
170 296 2327
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