Tübinger
Neurowissenschaftler weisen nach, dass „Kopfrichtungszellen“ im Nagetiergehirn
mit anderen Hirnstrukturen verbunden sind, die der Navigation dienen
Ein Neurowissenschaftler-Team unter Leitung von Dr. Andrea Burgalossi vom
Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) der
Universität Tübingen hat einen wichtigen Schritt hin zum Verständnis unseres
“Inneren Kompasses” getan. Bei der Erforschung sogenannter Kopfrichtungszellen
(Head Direction Cells bzw. HD-Zellen) in Nagetiergehirnen konnten sie die
Existenz von Netzwerken nachweisen, die seit über einem Jahrzehnt lediglich
theoretisch angenommen wurden: HD-Zellen sind direkt mit anderen Hirnstrukturen
verbunden, die unsere Wegfindung im Raum ermöglichen. Besonders interessant ist
der Befund, dass HD-Zellen Hirnareale ansteuern, in denen es viele Gitterzellen
gibt. Von diesem Zelltypus wird vermutet, dass er bei der Navigation wie eine
Art GPS im Gehirn wirkt.
„Es war für uns extrem aufregend, diese Zellen und ihre Verbindungen das
erste Mal unter dem Mikroskop zu sehen“, berichtet Dr. Burgalossi. „Schließlich
waren sie lange nur wissenschaftliche Phantome.” Die Zellen, über deren
Entdeckung der Tübinger Neurowissenschaftler sich so begeistert zeigt, heißen
Head Direction Cells oder HD-Zellen, da sie die Ausrichtung des Kopfes
erkennen. Diese einfache, aber bedeutende Rolle bei der Navigation im Raum wird
seit den frühen 1990er Jahren einem Zelltyp zugeschrieben, dessen Existenz
bisher nur angenommen wurde.
Bis jetzt aber waren HD-Zellen und ihre Verbindungen mit anderen
Hirnarealen nicht tatsächlich identifiziert und beobachtet worden. Nun haben
die Tübinger Wissenschaftler sie erstmals im Gehirn von Ratten gefunden und
mikroskopisch betrachtet. Ihr Zielobjekt fanden die Forscher, indem sie
haarfeine Glaselektroden in das Präsubikulum einführten, ein Hirnareal,
von dem als sicher galt, dass es HD-Zellen in großer Zahl enthält. Diese
Elektroden spürten die schwachen elektrischen Impulse auf, welche HD-Zellen
immer dann erzeugten, wenn der Kopf der Ratte in bestimmter Weise ausgerichtet
war. Das Präsubikulum besteht aus mehreren Lagen, die unterschiedliche
Neuronentypen enthalten, und nicht alle davon sind HD-Zellen. „HD-Zellen haben
eine bestimmte Morphologie, man findet sie vor allem in Lage 3 des
Präsubikulums. In Lage 2 sehen die Neuronen anders aus, dort fanden wir keine
solchen Zellen vor”, erklärt Burgalossi. „Damit haben wir eine enge Verbindung
zwischen Struktur und Funktion gefunden!“ Die Beziehung zwischen Struktur und
Funktion ist sozusagen der Heilige Gral der Neurowissenschaften: Sie erlaubt
den Forschern nicht nur die Aussage „dieser Teil des Gehirns tut jenes“,
sondern ermöglicht auch tiefe Einblicke in die Frage, wie die einzelnen
Neuronen ihre Aufgabe konkret verrichten.
Die Ergebnisse der Tübinger Forscher erlauben womöglich erstmals Schlüsse
darauf, wie HD-Zellen Informationen aus dem Präsubikulum an andere Hirnareale
weiterleiten, die der Navigation dienen. Im Gehirn bilden sich Netzwerke durch
Axone, lange, sehr dünne Fortsätze, die Neuronen miteinander verbinden. Axone
sind die „Kabel“, die im Gehirn „Schaltkreise“ schließen. Selbst in den
winzigen Nagetiergehirnen werden sie mehrere Millimeter lang und sind dabei nur
einen Mikrometer dick. Diese Abmessungen machen es schwierig, für Netzwerke im
Gehirn direkte Nachweise zu finden. Einzelne Neuronen werden unter dem
Mikroskop dadurch kenntlich gemacht, dass man Farbe in den Zellkörper
injiziert. Aber Axone sind so dünn und so lang, dass man sie so nur selten zu
Gesicht bekommt: „Der schwierigste Teil unserer Arbeit ist oft das Markieren“,
sagt Burgalossi. „Nur wenn man eine HD-Zelle effektiv färben kann, wird man
herausfinden, welches unter vielen möglichen spezifischen Neuronen man vor sich
hat, und wohin es Verbindungen unterhält.“
Burgalossis Forschergruppe fand heraus, dass HD-Zellen im Präsubikulum
Informationen an den medialen entorhinalen Kortex weiterleiten, ein
Hirnareal, dem die Neurowissenschaft viel Aufmerksamkeit schenkt: Hier sind die
Gitterzellen zu Hause, ein erst kürzlich entdeckter Zelltyp, der seinen Namen
daher hat, dass seine Aktivität eine regelmäßige Gitter-Karte der Umgebung
widerzuspiegeln scheint. Die Entdeckung der Gitterzellen durch das norwegische
Forscherehepaar Edvard und May-Britt Moser wurde 2014 mit dem Nobelpreis
gewürdigt. Die Ergebnisse der Tübinger Hirnforscher liefern nun den ersten
anatomischen Nachweis, dass die entorhinalen Gitterzellen tatsächlich mit dem
Rest des Navigationssystems im Gehirn verbunden sein dürften, insbesondere mit
den HD-Zellen. Die Neurowissenschaft ist damit einen Schritt näher am
Verständnis des Inneren Kompasses.
Publikation:
Patricia Preston-Ferrer,
Stefano Coletta, Markus Frey, Andrea Burgalossi: Anatomical Organization of
Presubicular Head-Direction Circuits. eLife. 10 June 2016. pii: e14592.
Eberhard Karls Universität Tübingen