Die Netzhaut leitet über bis zu 40 verschiedene Kanäle Informationen an unser Gehirn weiter. Abbildung: CIN/Universität Tübingen |
Tübinger
Neurowissenschaftler zeigen, wie die Netzhaut Informationen ans Gehirn sendet:
Bilder werden bereits im Auge ausführlicher interpretiert als bislang
angenommen
Bilder werden
im Auge wesentlich umfassender verarbeitet und interpretiert als bisher
bekannt. Tübinger Wissenschaftler haben in einer Studie die Kanäle untersucht,
über die Informationen aus dem Auge ins Gehirn geleitet werden. Dabei
identifizierten sie zahlreiche neue Zelltypen und stellten zudem fest, dass die
Netzhaut über bis zu 40 verschiedene Kanäle ins Gehirn verfügen dürfte –
doppelt so viele wie bislang angenommen. Die Ergebnisse wurden im renommierten
Fachjournal „Nature“ veröffentlicht. DOI: 10.1038/nature16468
„Was das
Froschauge dem Froschgehirn erzählt“ überschrieb 1959 der
Kognitionswissenschaftler Jerome Lettvin einen bahnbrechenden Aufsatz. Seine
Annahme: Das Gesehene wird nicht erst im Gehirn, sondern bereits im Auge
verarbeitet. Lettvin konnte zeigen, dass das Auge nicht nur wie eine Kamera
Bilder aufnimmt und ungefiltert ins Gehirn weiterleitet. Vielmehr werden
bereits im Auge wichtige Informationen gewonnen, beispielsweise im Falle des
Frosches: „Dort ist etwas Kleines, Dunkles, vielleicht eine Fliege“. Seine
Thesen waren so revolutionär, dass Lettvin zunächst ausgelacht wurde.
Mittlerweile aber gilt sein vielzitierter Aufsatz als Meilenstein, die damals
gestellten Fragen beschäftigen die Wissenschaft noch heute.
So auch das
Tübinger Forscherteam um Professor Thomas Euler und Professor Matthias Bethge
vom Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften der
Universität Tübingen, dem Bernstein Center for Computational Neuroscience und
dem Forschungsinstitut für Augenheilkunde des Universitätsklinikums Tübingen:
Die Neurowissenschaftler wollten wissen, welche Informationen über die Welt die
Retina (Netzhaut) vom Auge ins Gehirn sendet. Dazu untersuchten sie in einer
großangelegten Studie über 11.000 einzelne Netzhaut-Zellen in Mäusen. Die
bisher größte Studie dieser Art hatte ca. 450 Zellen umfasst.
Durch eine
Kombination modernster experimenteller Methoden untersuchten die Forscher
sogenannte retinale Ganglienzellen (retinal ganglion cells, RGCs): Sie
nutzten Elektroporation, eine Färbetechnik, durch die man ganze Populationen
von Nervenzellen unter dem Mikroskop sichtbar machen und dann einzelnen Zellen
in Echtzeit „bei der Arbeit“ zusehen kann. Dazu kamen neue Verfahren zur
Analyse der großen Datenmengen. Die Wissenschaftler interessierten sich dabei
vor allem für die verschiedenen Funktionen der Zellen: Unterschiedliche
Ganglienzellen reagieren auf unterschiedliche Eigenschaften der gesehenen
Bilder und schicken diese Informationen über getrennte Kanäle ans Gehirn, die
jeweils für Kontrast, Farbe, Bewegungsrichtung, die Lage von Kanten und ihrer
Orientierung etc. zuständig sind. Aus diesen Informationskanälen baut das
Gehirn dann unser Bild von der Welt. Die Wissenschaftler testeten
Nervenzellreaktionen auf verschiedene einfache Bilder und bewegte optische
Reize.
Das
Forscherteam konnte anhand dieser funktionalen Unterscheidung bis zu 40
verschiedene Typen von Ganglienzellen in der Netzhaut zuordnen, die sehr
wahrscheinlich ebenso viele Informationskanäle repräsentieren. Bislang war man
von maximal 20 Typen ausgegangen. Die Ergebnisse aus dem Mausmodell lassen sich
zwar nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen – die Retina ist aber bei
allen Säugetieren sehr ähnlich aufgebaut.
Die Vielzahl
an Informationskanälen weist darauf hin, dass die Netzhaut die aufgenommenen
Lichtsignale nicht nur in Nervenzellsignale umwandelt, sondern bereits wichtige
Interpretationsarbeit leistet. Mit ihrer grundlegenden Arbeit sind die Tübinger
Wissenschaftler dem Verständnis, wie die Interpretation von Bildern im Gehirn
erfolgt, einen Schritt näher gekommen. Da viele Erkrankungen, die den Sehsinn
einschränken, nur bestimmte Zelltypen in der Retina oder bestimmte
Informationskanäle betreffen, können die Erkenntnisse auch dazu beitragen, gezielte
Therapien zu entwickeln. Auch die – gerade in Tübingen – seit einigen Jahren
voranschreitende Forschung an prothetischer Implantattechnologie
(Retina-Implantat), die eines Tages Blinde sehend machen könnte, kann derartige
Beobachtungen nutzen. Bisherige Modelle stimulieren die Netzhaut relativ
unspezifisch, mit Hilfe der neuen Erkenntnisse könnten künftige Versionen
gezielt visuelle Informationen in die passenden Kanäle einspeisen.
Publikation:
Tom Baden, Philipp Berens, Katrin Franke, Miroslav
Román Rosón, Matthias Bethge, Thomas Euler: “The Functional Diversity of
Retinal Ganglion Cells in the Mouse.” Nature
(im Druck). Januar 2016. DOI: 10.1038/nature16468
Kontakt:
Prof. Thomas
Euler
Universität
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für Integrative Neurowissenschaften (CIN)
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