Donnerstag, 4. Oktober 2012

Im Wettlauf mit dem Säurefraß


Fotograf: Leo Pompinon

Hochbegabungspresse In deutschen Archiven und Bibliotheken verfallen Jahr für Jahr unzählige alte Bücher, Handschriften und Karten. 80 Millionen Werke warten auf Rettung. Doch es gibt viel zu wenig finanzielle Mittel. Eine zentrale Koordinierungsstelle in Berlin hofft jetzt, Politik und Öffentlichkeit für das Problem sensibilisieren zu können.

Der Krieg war gerade vorbei, da gab es Ende Mai 1945 im kleinen Rathaus der Stadt Pfullingen eine enorme Explosion. Waffen und Munitionsreste waren dort gesammelt worden, um sie zu vernichten. Doch eine Unachtsamkeit hatte sie entzündet. Wie es heißt, könnte ein weggeworfener Zigarettenrest das Unglück verursacht haben. Das Rathaus stand in Flammen. Der materielle Schaden traf zudem das Stadtarchiv der kleinen Stadt südlich von Stuttgart. „Der Brand hat eine große Lücke in unsere Bestände gerissen, die dort lagerten“, sagt Stefan Spiller, der das Archiv seit 2008 leitet. „Nicht nur die Explosion selbst, auch die anschließenden Löscharbeiten haben Schäden verursacht.“ In den Jahren 
darauf kam Schimmelbildung hinzu. Denn an eine ordentliche Restaurierung der alten Schätze war lange Zeit aus Kostengründen kaum zu denken.

66 Jahre sollte es dauern, bis die Rettung der alten Papiere einen großen Schritt machte. Insgesamt rund 60 Archivalien wurden restauriert und stehen jetzt wieder zur Nutzung bereit. Es sind Gemeinderatsprotokolle, Steuerbücher aus dem 17. Jahrhundert und weitere bedeutende Quellengruppen. „Möglich wurde das durch eine Förderung der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts“, sagt Spiller. „2011 hat die Berliner Einrichtung dieses Vorhaben gefördert.“

Säure zerstört die kostbaren Werke
Brandschäden oder andere Umwelteinflüsse sowie die Nutzung historischer Bestände machen diesen überall im Land mächtig zu schaffen. Der größte Feind der Bücher steckt in ihnen selbst. Es ist die Säure im Papier, die die alten Bestände der Bibliotheken unumkehrbar in Mitleidenschaft zieht. Sie zersetzt 
das Material von innen heraus. Gut 80 Millionen Bücher aus säurehaltigem 
 Papier sind davon in Deutschland betroffen.

„Wir müssen dringend handeln, um unsere kostbaren historischen Bestände vor dem Verfall zu retten“, sagt Dr. Ursula Hartwieg. Sie leitet die vor gut einem Jahr gegründete Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK). „Mit zehn Millionen Euro jährlich könnten wir die drängendsten Aufgaben bewältigen“, sagt sie. „Die Massenentsäuerung von Büchern ist extrem teuer.“ Doch von dieser Summe kann momentan keine Rede sein. Die Koordinierungsstelle hat einen jährlichen Etat von 600.000 Euro. Er wird vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien mit 500.000 Euro 
sowie der Kulturstiftung der Länder mit 100.000 Euro bereitgestellt.
Immerhin gilt die Einrichtung der Koordinierungsstelle als ein bedeutender Schritt für den Schutz der alten Bücher, Handschriften und Karten in Bibliotheken und Archiven. Zu den Hauptaufgaben der KEK zählen nämlich die Erstellung eines nationalen Bestandserhaltungskonzepts, die Evaluation bereits vorhandener Erkenntnisse sowie die Vernetzung bestehender Institutionen. „Wir unterstützen durch die Förderung von Modellprojekten auch die Forschung“, sagt Hartwieg. Allein im vergangenen Jahr wurden 40 Projekte gefördert. Dabei wolle man insbesondere mit regionalen Einrichtungen zusammenarbeiten. „Dort liegen viele Schätze, die es sehr schwer haben, Aufmerksamkeit zu erhalten“, sagt 
Hartwieg.

Jahrelange politische Überzeugungsarbeit
Der Einrichtung der KEK war harte politische Überzeugungsarbeit vorausge-gangen – und beendet ist sie noch lange nicht. Bereits 2001 hat sich die Interessengemeinschaft „Allianz Schriftliches Kulturgut Erhalten“ gegründet. Mit Denkschriften, Stellungnahmen und einem Nationalen Aktionstag versucht sie seither, Politiker und Öffentlichkeit von der Relevanz dieses Themas zu überzeugen. Rückenwind kam von der Enquetekommission des Bundestages „Kultur in Deutschland“. Sie empfahl Bund und Ländern 2007 ein nationales Konzept für die Bestandserhaltung zu erarbeiten. „2009 hat die Allianz dann eine Denkschrift an den damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler überreicht“, sagt Ursula Hartwieg. „Darin wurde unsere Koordinierungsstelle explizit gefordert.“

Die KEK wurde schließlich auf Initiative von Kulturstaatsminister Neumann im August 2011 bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz eingerichtet. Mit einer Laufzeit von zunächst fünf Jahren ist sie an der Staatsbibliothek zu Berlin angesiedelt, jedoch eine eigenständige Einrichtung. „Wir können uns nun vor allem auf nationaler Ebene mit Fragen zur Sicherung des schriftlich überlieferten Kulturerbes befassen“, sagt Hartwieg. Das sei auch dringend nötig. „Denn aufgrund der Kulturhoheit der Länder hat Deutschland keine einheitliche 
 nationale Strategie zur Bestandserhaltung.“

Seit 1999 arbeitet Ursula Hartwieg in Berlin. Bevor sie die Leitung der KEK übernahm, war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Staatsbibliothek. Von diesen Aufgaben ist sie für die fünfjährige Aufgabe freigestellt. Insgesamt 2,5 Personalstellen hat sie nun zu verantworten, die ebenfalls aus dem 600.000-Euro-Budget finanziert werden. „Große Sprünge können wir mit diesem Etat 
also nicht machen“, sagt sie. „Wir hoffen deshalb, dass die Koordinierungsstelle nach Ablauf der ersten fünf Jahre fortgeführt wird und dass wir dann eine 
deutlich bessere finanzielle Ausstattung erhalten.“ Bis dahin wolle man der 
Politik modellhaft zeigen, was möglich sei. Säurefraß, Wasser- und Feuer-schäden jedenfalls seien dafür in deutschen Bibliotheken und Archiven ausreichend vorhanden.

 (Autor: dbv, Text inkl. Leerzeichen: 5274 Zeichen)

Weitere Informationen:
Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK)
Leitung Dr. Ursula Hartwieg
Telefon: 030 266 43 14 54

Allianz Kulturgut


Kasten:

Neben den Restaurierungsarbeiten an den alten Werken, neben der Pflege und Archivierung ist die Digitalisierung eine weitere Maßnahme zur Bestands-erhaltung. Sie ersetzt zwar nicht die Wiederherstellung des Originals. Doch 
macht sie den Bibliotheksnutzern wertvolle Bestände auf neue Weise zugänglich. Die Digitalisierung zählt nicht zu den Aufgaben der KEK. Zu diesem Zweck sind bundesweit eigens Digitalisierungszentren eingerichtet worden. Auch einige größere Bibliotheken besitzen entsprechende Geräte. Die KEK habe noch nicht 
die nötigen Mittel, um solche Arbeiten zu unterstützen. Die vorhandenen Mittel würden ausschließlich für den Originalerhalt verwendet. Zusätzlich zu den Anschaffungs- und eigentlichen Digitalisierungskosten gibt es aber auch hier ein besonderes Problem: Noch fehlen Strategien für die elektronische Langzeitarchivierung. Die heutigen Speichermedien und Programme werden in wenigen Jahren selbst technisch veraltet sein.

(Autor: dbv, Kasten-Text: 949 Zeichen, inkl. Leerzeichen)


Die bundesweite Aktionswoche „Treffpunkt Bibliothek“ wird bereits zum fünften Mal vom Deutschen Bibliotheksverband e.V. (dbv) koordiniert. Vom 24. bis 31. Oktober 2012 präsentieren sich Bibliotheken in ganz Deutschland als Partner für Medien- und Informationskompetenz sowie für Bildung und Weiterbildung. Sie veranstalten Lesungen, Ausstellungen, Workshops, Events, Bibliotheksnächte und viele weitere Aktionen, die im gemeinsamen Terminkalender zu finden sind: www.treffpunkt-bibliothek.de.

Der Deutsche Bibliotheksverband e.V. (dbv)
Im Deutschen Bibliotheksverband e.V. (dbv) sind ca. 2.000 Bibliotheken aller Sparten und Größenklassen Deutschlands zusammengeschlossen. Der gemeinnützige Verein dient seit mehr als 60 Jahren der Förderung des Bibliothekswesens und der Kooperation aller Bibliotheken. Sein Anliegen ist es, die Wirkung der Bibliotheken in Kultur und Bildung sichtbar zu machen und ihre Rolle in der Gesellschaft zu stärken. Zu den Aufgaben des dbv gehört auch die Förderung des Buches und des Lesens als unentbehrliche Grundlage für Wissenschaft und Information, sowie die Förderung des Einsatzes zeitgemäßer Informationstechnologien.

Kontakt: Deutscher Bibliotheksverband e.V.
Barbara Schleihagen, Geschäftsführerin, Tel.: 0 30/644 98 99 12