Samstag, 13. Oktober 2012

Illegal im Lesesaal



Fotograf: Leo Pompinon


Hochbegabungspresse

Zum 31. Dezember 2012 läuft eine Regelung des Urheberrechts aus. Sie regelt Lern- und Lehrbedingungen an Hochschulen und bestimmt das Angebot der Bibliotheken dort. Sollte der Paragraph 52a UrhG bis Jahresende nicht verlängert werden, dann wird wissenschaftliches Arbeiten in wesentlichen Bereichen zum juristischen Problemfall – und es gibt weitere Gesetzeslücken.

Mit einer Rekordzahl an Studierenden beginnt in diesen Tagen das Campus-Leben im neuen Wintersemester. Weit mehr als zwei Millionen junge Menschen haben sich an deutschen Hochschulen eingeschrieben. Bibliotheken sind aus ihrem Leben nicht wegzudenken. Dort finden sie Fachlektüre, Arbeitsplätze und die Materialien, die ihnen ihre Dozenten in den sogenannten Semesterapparaten zusammenstellen: Auszüge aus Fachartikeln etwa.
Ihr Start in das Wissenschaftsleben könnte in diesem Semester einen herben Rückschlag erleben. Brenzlig ist die Situation wegen des Paragraphen 52a UrhG (Urheberrechtsgesetz). Darin ist geregelt, dass Studierenden und Forschern, die etwa an einem Seminar teilnehmen, urheberrechtlich geschützte Werke in Ausschnitten zugänglich gemacht werden dürfen. Professoren haben damit die Möglichkeit, ihren Studierenden Textauszüge in den Semesterapparaten zusammenzustellen. Doch der Paragraph läuft zum 31. Dezember dieses Jahres aus.

Bibliothekare wünschen sich eine Entfristung des Paragraphen
Wenn der Gesetzgeber nicht mindestens eine Verlängerung der Geltungsdauer der Vorschrift beschließt, könnte zum Jahresende also Schluss mit diesem Bildungsangebot sein. „Viele Unterrichtsformen und der Austausch von Texten in Forscherteams würden damit illegal“, sagt Dr. Frank Simon-Ritz, der Direktor der Universitätsbibliothek der Bauhaus-Universität Weimar und Vorstandsmitglied des Deutschen Bibliotheksverbands e.V. (dbv). „Wir brauchen nicht nur eine Verlängerung, sondern endlich auch eine Entfristung des Paragraphen 52a“, sagt Simon-Ritz.
Schon seit Monaten gewinnen die Appelle an die Justizministerin Sabine Leutheuser-Schnarrenberger an Nachdruck. „Wir brauchen dringend eine dauerhafte Rechtssicherheit“, fordert Barbara Schleihagen, die Geschäftsführerin des dbv. „Wissenschaft und Forschung werden derzeit dadurch behindert, dass ihnen die Bibliotheken Informationen nicht in der Weise zur Verfügung stellen können, wie sie es brauchen.“
„Bibliotheken sind seit jeher sowohl der Produktion als auch der Rezeption des Wissens verpflichtet“, sagt Simon-Ritz. Auf der einen Seite setzen sie sich für den Schutz der Interessen von Autoren ein. Zum anderen orientieren sie sich an den Interessen der Leser und Studierenden. Der Paragraph 52a UrhG bietet dazu eine praktikable Lösung. Er begrenzt den Kreis der Leser und regelt eine pauschale, angemessene Vergütung der Rechteinhaber. Dennoch ist er seit seiner Einführung im Jahr 2003 immer nur befristet gültig.
„Das ist aus unserer Sicht ein nicht haltbarer Zustand“, sagt Oliver Hinte, Geschäftsführer der Fachbibliothek Recht der Universität Köln und Vorsitzender der Rechtskommission des dbv. „Zudem wünschen wir uns, dass auch die Nutzung der immer stärker nachgefragten elektronischen Medien klarer geregelt wäre.“ Derzeit werden sie im Gesetzestext nicht explizit genannt. „Der Gesetzgeber muss dringend klären, dass die Verwendung digitaler Kopien in so genannten elektronischen Semesterapparaten der Veranschaulichung im Unterricht dient“, sagt Hinte. Im Internet-Zeitalter nutzten schließlich sowohl die Studierenden als auch die Lehrenden immer öfter digitale Kopien.
Der Paragraph 52a ist einer der so genannten Schranken-Paragraphen des Urheberrechtsgesetzes. Er legt fest, dass nur ein bestimmter, abgegrenzter Personenkreis auf das Material der Semesterapparate zugreifen kann. „Wir setzen uns dafür ein, dass insbesondere an Hochschulen der Zugang zu wissenschaftlichen Fachinformationen schneller und leichter möglich sein muss“, sagt Rechtsexperte Hinte. Eine Lösung wäre aus seiner Sicht eine allgemeine Wissenschaftsschranke, die für Wissenschaft und Forschung pauschale Nutzungsformen regelt.

Weitere Baustellen im Urheberrecht
Während sich der Wandel zur digitalen Bibliothek rasant vollzieht, hinkt das Urheberrecht also hinterher – und der Paragraph 52a ist dabei nicht die einzige Baustelle. „Dringender Verbesserungsbedarf besteht auch bei den Sonderregelungen für die digitalen Leseplätze“, sagt Simon-Ritz. In diesem Fall kommt ein zweiter Schranken-Paragraph, nämlich 52b UrhG, zum Tragen. Er gestattet es Bibliotheken, Bücher, die sie physisch besitzen, zu digitalisieren und ihren Besuchern in dieser Form in den Räumen der Bibliothek zugänglich zu machen ­– jedoch nur als Bildschirmansicht. „Wir müssen das Ausdrucken und Herunterladen solcher Dateien technisch unmöglich machen“, sagt Simon-Ritz. Damit würden die Bibliotheken wieder zu Skriptorien, in denen Bildschirminhalte von Hand abgeschrieben werden müssten. Ende September hat der Bundesgerichtshof ein Verfahren zu elektronischen Leseplätzen ausgesetzt und Fragen dazu dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt. Eine höchstinstanzliche Regelung  ist also in greifbare Nähe gerückt.
Ähnlich hinderlich sind die Einschränkungen, die es für digitale Kopien im Rahmen des Leihverkehrs zwischen den Bibliotheken gibt. „Allerdings hindern Einschränkungen die Bibliotheken daran, ihren Nutzern digitale Kopien ihrer Bestellungen zuzusenden“, sagt Simon-Rith. Paragraph 53a UrhG führe dazu, dass eine digitale Kopie nicht an den Nutzer übermittelt werden könne.
Auch im Hinblick auf die Digitalisierung so genannter „vergriffener“ und „verwaister“ Werke besteht dringender Handlungsbedarf. Hunderttausende von ihnen lagern derzeit in Bibliotheken und konnten bislang nicht digitalisiert werden. An den vergriffenen Werken besteht in der Regel kein Verwertungsinteresse mehr. Deshalb sind sie im Buchhandel nicht mehr erhältlich. „Bibliotheken sollten aber die Möglichkeit haben, auch diese verborgenen Schätze in die digitale Welt zu überführen“, sagt Oliver Hinte. Bei den verwaisten Werken, bei denen die Rechteinhaber unbekannt sind, zeichne sich unterdessen eine, wenn auch nicht befriedigende Lösung ab. Nach einem Beschluss des Europaparlaments Mitte September sollen verwaiste Werke künftig für nicht-kommerzielle Zwecke im Internet verwendet werden dürfen.
Allerdings stellt die Richtlinie zu hohe Anforderungen an die Suche nach möglicherweise noch vorhandenen Rechteinhabern, meint Hinte. Sie beseitige nicht die juristischen Risiken bei Massendigitalisierungsverfahren. „Es wurde eine große Chance vertan, die kulturellen Errungenschaften ins digitale Zeitalter zu retten.“ Die Richtlinie muss noch vom Ministerrat beschlossen werden. Dann kann sie in Kraft treten. „Für die vergriffenen Werke wünschen wir uns eine deutlich ambitioniertere Lösung“, sagt Hinte.
Für die Bibliotheken steht im Ringen um juristische Regelungen viel auf dem Spiel. Bis daraus Ernst wird, sind es nur noch wenige Wochen.

(Autor: dbv, Text: 6554 Zeichen, inkl. Leerzeichen)

Weitere Infos:


Am 24. Oktober 2012 findet von 18 bis 19 Uhr an der Technischen Hochschule Wildau eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Wem gehört die Wissenschaft? Der Streit ums Urheberrecht zwischen Forschung und Verlagen“ statt. Am 26. Oktober 2012 wird sie ab 19 Uhr vom Deutschlandradio Kultur in der Rubrik Wortwechsel ausgestrahlt. Am 25. Oktober lädt der dbv zu einer Urheberrechts-Veranstaltung in Berlin ein. Das Symposium mit Podiumsdiskussion trägt den Titel „Urheberrecht für die Wissensgesellschaft – Herausforderungen in der digitalen Welt“.


Kasten:
Insgesamt sind derzeit mehrere zehntausend Titel in Deutschland für die elektronische Ausleihe verfügbar. Für die Bibliotheken treten damit auch rechtliche Fragen. „Denn wir erwerben von den Verlagen nicht mehr das Buch selbst, sondern lediglich eine Lizenz, die dem Leser einen Zugang zu dem Medium verschafft“, sagt Barbara Lison. Sie leitet die Stadtbibliothek Bremen und ist Mitglied im dbv-Vorstand sowie im Vorstand der internationalen Bibliotheksvereinigung IFLA. Diese Lizenzen müssen aufwändig verhandelt werden, wobei einige Verlage entweder überhaupt keine Lizenzen an Bibliotheken vergeben oder Bedingungen stellen, etwa wie oft oder lange ein E-Book von der Bibliothek an deren Kunden ausgeliehen werden kann. Die Bibliothekare wünschen sich auch für diese Frage eine Lösung im Urheberrecht. Die elektronischen Formate, die ein Buch substituieren, sollten auch wie ein Buch anerkannt sein. Schließlich bestehe ein ideeller Inhalt unabhängig vom Trägermedium. Wenn eine Bibliothek eine Lizenz erworben habe, solle sie deshalb damit weiteragieren können, wie mit einem gedruckten Buch.

(Autor: dbv, Kasten-Text: 1096 Zeichen, inkl. Leerzeichen)



Die bundesweite Aktionswoche „Treffpunkt Bibliothek“ wird bereits zum fünften Mal vom Deutschen Bibliotheksverband e.V. (dbv) koordiniert. Vom 24. bis 31. Oktober 2012 präsentieren sich Bibliotheken in ganz Deutschland als Partner für Medien- und Informationskompetenz sowie für Bildung und Weiterbildung. Sie veranstalten Lesungen, Ausstellungen, Workshops, Events, Bibliotheksnächte und viele weitere Aktionen, die im gemeinsamen Terminkalender zu finden sind: www.treffpunkt-bibliothek.de.

Der Deutsche Bibliotheksverband e.V. (dbv)
Im Deutschen Bibliotheksverband e.V. (dbv) sind ca. 2.000 Bibliotheken aller Sparten und Größenklassen Deutschlands zusammengeschlossen. Der gemeinnützige Verein dient seit mehr als 60 Jahren der Förderung des Bibliothekswesens und der Kooperation aller Bibliotheken. Sein Anliegen ist es, die Wirkung der Bibliotheken in Kultur und Bildung sichtbar zu machen und ihre Rolle in der Gesellschaft zu stärken. Zu den Aufgaben des dbv gehört auch die Förderung des Buches und des Lesens als unentbehrliche Grundlage für Wissenschaft und Information, sowie die Förderung des Einsatzes zeitgemäßer Informationstechnologien.

Kontakt:  Deutscher Bibliotheksverband e.V.
Barbara Schleihagen, Geschäftsführerin, Tel.: 030/644 98 99 12