Foto: Ralf Voigt |
Man erkennt sie.
Es sind die kleinen Einsteins, die Picassos und die
Mozarts. Sie lesen schon mit sechs Jahren „The New York Times“, korrespondieren
mit fünf Jahren in Mandarin und spielen mit vier Jahren die Spatzenmesse in
C-Dur. Später studieren sie dann bereits mit 14 an einer Uni und werden
jüngster Professor oder jüngste Professorin.
Man kennt sie.
Dann gibt es noch die anderen.
Ihre Begabung ist nicht so offensichtlich. Oder:
offensichtlich nur für Eingeweihte. Für Kennerinnen und Kenner. Wahrscheinlich
stehen sie nicht in einem Labor. Ob sie mit dem Pinsel umgehen können? Seien Sie
tapfer: Wohl eher nicht so. Ob sie eine Stradivari zu schätzen wissen? Hm.
Und doch haben sie ihre Begabung. Erkennbar wie gesagt
fast nur für Eingeweihte.
Ein Beispiel: Ich war Mitglied in einem Verband, der
das Wort „Wirtschaft“ in seinem Namen trägt. Es ging um ein Thema, das alle
Menschen bewegt. Wirklich alle. Wirklich jeden. Es ging um Politik. Und um den
Anlauf zu einem neuen Gesetz. Man diskutierte. Und fragte sich, wie man denn
überzeugend argumentieren könnte.
Ich erwähnte den Gedanken einer Befragung. Sie kennen
das: In jeder grösseren Stadt stehen diese Interviewer auf der grossen
Einkaufsstrasse und wollen wissen, welche Zahnpasta, welches Waschmittel, welche
Automarke Sie bevorzugen. Strasseninterviews nennen wir das. Wir, das sind
meine Kolleg*innen aus der Marktforschung und ich. Ich hatte damals ein Institut für Markt-
und Kommunikationsforschung. Unsere Klienten aus der Politik und
Wirtschaft waren bekannt und angesehen und wir waren stolz darauf, für sie
forschen zu dürfen.
In meinem Verband war das bekannt.
Ja. Sagte man: Eine Befragung auf der Strasse ist ein
überzeugendes Argument. Wir – wer auch immer „wir“ sein sollte – wir stellen
uns auf die Strasse und befragen die Menschen. Und dann geben wir – und das war
der Sinn der Sache – das Ergebnis an den OB der Stadt. Einer von meinen
Kollegen im Verband meinte dann: Ob wir wohl 50 Menschen dazu bewegen können,
mit uns zu reden?
Wie, sagte ich: 50 Menschen?
Klar sind 50 Menschen eine tolle Sache. Aber: Wie
wollen wir einen OB mit den Stimmen von 50 Menschen motivieren, ein neues
Gesetz in Gang zu bringen? Nach einer halben Stunde hatte man sich auf 100
Menschen geeinigt. Mit dem Zusatz: Ob wir das wohl schaffen werden?
Warum so zaghaft?
Die Jungs und Mädels, die hier zusammen sassen, waren die Menschen, die täglich über Millionen entschieden. Ihre Denkweisen waren nicht 100 oder 1.000. Es waren 1.000.000 und mehr!
Mir war klar, dass ich meine lieben Kolleginnen und
Kollegen jetzt schockieren musste. Nicht weil ich Schocks mag – aber ich musste
ihnen schon sagen, wie so etwas in der Realität funktioniert. Dass man an den
verantwortlichen Stellen – sorry – 100
Menschen als Beweis nicht gelten lassen wird. Man wird schmunzeln und zur
Tagesordnung übergehen.
Noch bevor ich den Gedanken: „Wie sag‘ ich es das denn
jetzt?“ zu einem Satz modellieren konnte, war es raus:
1.000 Interviews?
Das Entsetzen war gross. Nur unser Präsident war
begeistert. Und dann ging das los, was zumeist los geht, wenn ein Hochbegabter –
eine Hochbegabte – eine Idee und einen Weg vor Augen hat: GEHT NICHT!
FUNKTIONIERT NICHT! SCHAFFEN WIR NICHT! WIR SIND DOCH NICHT VERRÜCKT! WER SOLL
DAS DENN ALLES ZAHLEN?
Ich hörte mir das eine Stunde an, während ich das
Konzept schrieb, die Umsetzung des Konzepts plante und einen Entwurf für den
Fragebogen entwarf. Unser Präsident hatte mich aus den Augenwinkeln beobachtet
und rief mich auf – nach vorne zu kommen und die Einzelheiten zu präsentieren.
Gesagt. Getan.
Wir fanden über 50 Mitglieder aus dem Wirtschafts-Verband,
die mitmachten. Manager*innen, die ich mit meinem Team für diesen Einsatz schulte.
Es waren wohl die Interviewer*innen mit den höchsten Stundenlöhnen, die hier und
heute ehrenamtlich auf die Strasse gingen und sehr mutig die Menschen nach
ihrer Meinung befragten.
Um Mitternacht hatten wir 1.037 Interviews geschafft.
Alle von meinen Forscherkollegen und mir kontrolliert. Alle perfekt. Es war ein
harter Job – aber selten habe ich ein Team von fast 100 „Mitarbeiter*innen“ so
begeistert arbeiten gesehen.
Am nächsten Morgen wurde noch einmal kontrolliert. Und dann
gingen die Fragebögen ins Rechenzentrum zur Uni. Ich schrieb dazu einen Bericht
für die Präsentation. Mein Team zeigte einen bewundernswerten Einsatz. Und so
konnte ich meiner Assistentin auch nicht die Bitte abschlagen, die Ergebnisse
beim OB präsentieren zu dürfen.
Der OB schien sehr zufrieden. Und so wanderten unsere
Ergebnisse weiter „nach oben“. Und so wurde aus unserer Idee der Beweis, dass
die Menschen diese Verbesserung ihres Alltags wirklich wollten.
Schliesslich wurde aus dem Beweis ein Gesetz in
Deutschland, das jedem Menschen den Alltag etwas besser macht. Zur Freude der
Menschen.
Nein, so faszinierend wie ein Picasso ist dieses Gesetz
nicht.
Aber es erleichtert seitdem allen Menschen ihr Leben. Und das Tag
für Tag in Deutschland.
Was sagte John F. Kennedy in seiner Antrittsrede am 20.
Januar 1961 in Washington, D.C.:
„Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann - fragt, was
ihr für euer Land tun könnt (…) fragt, was wir gemeinsam tun können für die
Freiheit des Menschen.“ [1]
Lilli Cremer-Altgeld
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