Mittwoch, 11. Januar 2017

Ein Dutzend und ein Neutronensterne


Mit der Hilfe von zehntausenden von Freiwilligen entdeckt das verteilte Rechenprojekt Einstein@Home 13 neue Gammapulsare

11. Januar 2017
Eine Untersuchung, die länger als tausend Jahre auf einem einzelnen Computer gedauert hätte, hat binnen eines Jahres mehr als ein Dutzend neuer schnell rotierender Neutronensterne in Daten des Gammasatelliten Fermi entdeckt. Ein internationales Team unter Leitung von Forschenden des Max-Planck-Instituts für Gravitationsphysik in Hannover untersuchte mit der von Freiwilligen aus aller Welt gespendeten Rechenleistung 118 unidentifizierte Objekte aus dem Fermi-Katalog. In 13 entdeckten sie einen rotierenden Neutronenstern im Herzen der Quelle. Alle Entdeckungen sind – nach astronomischen Maßstäben – junge Himmelsobjekte mit einem Alter von mehren zehn- und hunderttausend Jahren. Zwei von ihnen drehen sich überraschend langsam – gemächlicher als alle anderen bekannten Gammapulsare. Eine andere Entdeckung erfuhr einen sogenannten „glitch“, eine plötzliche Änderung der ansonsten gleichmäßigen Rotation mit unbekannter Ursache.
„Es gibt drei Gründe, warum wir so viele neue Pulsare entdeckt haben: die gewaltige Rechenleistung, die Einstein@Home bereit stellte, unsere Entwicklung neuer und effizienterer Suchmethoden, und die Nutzung von kürzlich verbesserten Fermi-Daten. Alles zusammen ergab eine beispiellos hohe Empfindlichkeit für unsere große Durchmusterung von mehr als 100 Quellen des Fermi-Katalogs“, sagt Dr. Colin Clark, Erstautor der Veröffentlichung, die nun im The Astrophysical Journal erschien.
Neutronsterne sind kompakte Überreste von Supernova-Explosionen und bestehen aus exotischer und extrem dichter Materie. Sie haben einen Durchmesser von etwa 20 Kilometern und wiegen so viel wie rund eine halbe Million Erden. Aufgrund ihrer starken Magnetfelder und schnellen Eigendrehung strahlen sie gerichtet Radiowellen und energetische Gammastrahlen ab – ähnlich eines kosmischen Leuchtturms. Wenn diese Strahlen ein- oder zweimal pro Umdrehung in Richtung Erde zeigen, wird der Neutronenstern als pulsierende Radio- oder Gammastrahlungsquelle sichtbar – als sogenannter Pulsar.

Gammapulsare „blind“ entdecken

Ein Gammapulsar ist ein kompakter Neutronenstern, der in seinem extrem starken Magnetfeld geladene Teilchen auf relativistische Geschwindigkeiten beschleunigt. Dabei entsteht unter anderem Gammastrahlung (violett) weit über der Oberfläche des kompakten Sternrests, während Radiowellen (grün) kegelförmig über den Magnetpolen ausgesendet werden. Die Rotation schwenkt die Abstrahlungsgebiete über die irdische Sichtlinie und lässt den Pulsar so periodisch am Himmel aufleuchten.Bild vergrößern
Ein Gammapulsar ist ein kompakter Neutronenstern, der in seinem extrem starken Magnetfeld geladene Teilchen auf ... [mehr]
Dieses periodische Pulsieren von Gammapulsaren aufzuspüren ist sehr schwierig. Im Schnitt detektiert das Large Area Telescope (LAT) an Bord des Fermi-Satelliten nur 10 Photonen pro Tag von einem typischen Pulsar. Um das Pulsieren nachzuweisen, müssen Daten von vielen Jahren analysiert werden, während der sich der Pulsar milliardenfach um die eigene Achse drehen kann. Für jedes einzelne Photon muss genau bestimmt werden, während welcher Phase der weniger als einer Sekunde dauernden Rotation es abgestrahlt wurde. So müssen die Astronomen Jahre überspannende Datensätze mit sehr feiner Auflösung durchkämmen, damit Ihnen kein Signal entgeht. Die Rechenleistung für diese „Blindsuchen“ – bei denen wenig bis keine Information über die Pulsare vorab bekannt ist – ist enorm.
Vorherige ähnliche Blindsuchen spürten 37 Gammapulsare in Fermi-LAT-Daten auf. Einstein@Home macht sämtliche Entdeckungen mit Blindsuchen in den vergangenen vier Jahren. Das Projekt hat so insgesamt 21 Gammapulsare entdeckt – mehr als ein Drittel aller in solchen Blindsuchen gefunden Objekte.

Rechenressource Einstein@Home

Mit der Hilfe von zehntausenden Freiwilligen aus aller Welt, die ungenutzte Rechenleistung auf ihren Computern zuhause für Einstein@Home spendeten, konnte das Team eine groß angelegte Durchmusterung durchführen. Insgesamt benötigte diese Suche eine Rechenzeit von rund 10.000 Jahren CPU-Kern-Zeit. Mit einem einzelnen Heim-PC hätte sie mehr als 1000 Jahre gedauert. Einstein@Home schaffte es binnen eines Jahres, obwohl nur ein Teil der Rechenleistung des Projekts dafür eingesetzt wurde.
Die Forschenden wählten aus 1000 unidentifizierten Qellen im Fermi-LAT Third Source Catalog ihre Ziele nach der Ähnlichkeit ihrer Energieverteilung der Gammastrahlung mit der von Pularen aus. Für jedes der 118 ausgewählten Objekte setzten sie neue hocheffiziente Methoden ein, um ein verstecktes Pulsieren in den registrierten Gammaphotonen zu entdecken.

Ein Dutzend und ein neuer Neutronenstern

<span>Der gesamte Himmel im Blick des Gammasatelliten </span><em>Fermi</em><span> und die 13 nun publizierten von Einstein@Home entdeckten Gammapulsare. Die Felder unterhalb der Ausschnitte zeigen den Namen des jeweiligen Pulsars und seine Rotationsfrequenz. Die Flaggen in den Ausschnitten zeigen die Nationalitäten der Freiwilligen an, deren Computer die Pulsare gefunden haben.</span>Bild vergrößern
Der gesamte Himmel im Blick des Gammasatelliten Fermi und die 13 nun publizierten von Einstein@Home entdeckten ... [mehr]
„Bislang haben wir 17 neue Pulsare in den 118 Gammastrahlungsquellen identifiziert, die wir mit Einstein@Home untersucht haben. Die neue Veröffentlichung in The Astrophysical Journal enthält 13 von diesen Entdeckungen“, sagt Clark. „Wir wussten, dass sich viele unidentifizierte Pulsare in den Fermi-Daten verstecken mussten. Aber es ist immer sehr aufregend tatsächlich einen von ihnen zu entdecken und gleichzeitig sehr befriedigend zu verstehen was seine Eigenschaften sind.“ Frühere Einstein@Home-Suchen hätten rund die Hälfte der Entdeckungen verpasst, aber die neuen verbesserten Suchmethoden machten nun den entscheidenden Unterschied.
Die meisten Entdeckungen sind so wie die Wissenschaftler erwarteten: relativ junge Gammapulsare, die vor einigen zehn- oder hunderttausend Jahren in Supernovae geboren wurden. Zwei von ihnen drehen sich jedoch langsamer als alle anderen bekannten Gammapulsare. Langsam rotierende junge Radiopulsare geben in der Regel weniger Gammastrahlung ab als schneller rotierende. Diese schwächeren Objekte zu entdecken ist daher hilfreich, um die gesamte Population der Gammapulsare zu erfassen. Ein weiterer neu entdeckter Pulsar erfuhr einen starken „glitch“, eine plötzliche Beschleunigung seiner sonst extrem gleichmäßigen Rotation mit unbekannter Ursache. Diese Phänomen ist von anderen jungen Pulsaren bekannt, allerdings noch nicht genau verstanden. Es könnte mit Neuanordnungen der Materie im Inneren der Neutronensterne zusammenhängen.

Die Suche nach Gammapulsaren in Doppelsternsystemen

„Einstein@Home hat 118 unidentifizierte pulsar-ähnliche Quellen aus dem Fermi-LAT-Katalog untersucht“, sagt Prof. Dr. Bruce Allen, Direktor von Einstein@Home und Direktor am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik. „Colin hat gezeigt, dass 17 von diesen in der Tat Pulsare sind und ich würde wetten, dass viele von den verbleibenden 101 es ebenfalls sind, die sich aber in Doppelsternsystemen befinden, für die uns derzeit noch die notwendige Empfindlichkeit fehlt. In der Zukunft wird Einstein@Home mit verbesserten Methoden auch diesen nachspüren und ich bin zuversichtlich, dass wir zumindest einige von ihnen finden werden.“
Hintergrundinformationen „Wer hat die Entdeckungen gemacht?“, „Einstein@Home im Überblick“, „Schritt für Schritt zum Ziel – die neuen Rechenmethoden“ nach dem Seitenumbruch.


Hintergrundinformation: Wer hat die Entdeckungen gemacht?

Zehntausende Einstein@Home-Freiwillige, die dem Projekt Rechenzeit gespendet haben, haben die Entdeckungen ermöglicht. Ohne sie hätte die Durchmusterung nicht durchgeführt werden und diese Entdeckungen nicht gemacht werden können. Das Team dankt insbesondere den Freiwilligen, deren Computer die 13 Pulsare entdeckten, die in der ApJ-Publikation vorgestellt werden. (In den Fällen, wo der Name des Freiwilligen unbekannt oder privat ist, geben wir den Einstein@Home-Benutzernamen an.)
PSR J0002+6216: James Drews von der UW-Madison, WI, USA und Ralph Elwell aus Richland, WA, USA; PSR J0359+5414: Whelton A. Miller III, Lincoln University of Pennsylvania & University of Pennsylvania, USA; der ATLAS-Cluster, AEI, Hannover, Deutschland und Philip “Delty” Horney von der GPU Users Group, Fort Wright, KY, USA; PSR J0631+0646: Katagiri, Atsushi aus Kawasaki, Japan und Nicholas Huwar aus Houston, TX, USA; PSR J1057−5851: Syracuse University HTC Campus Grid, NY, USA; Igor Yakushin aus Chicago, IL, USA und das LIGO Laboratory, USA; PSR J1105−6037: der ATLAS-Cluster, AEI, Hannover, Deutschland und Syracuse University HTC Campus Grid, NY, USA; PSR J1350−6225: Petr Ruzicka aus Brno, Tschechische Republik und Bryden Kanngiesser aus Calgary, Canada; PSR J1528−5838: “fred c” und Gabriel Vasquez aus Miami, FL, USA; PSR J1623−5005: Lars Bollwinkel aus Kiel, Deutschland und Greg Dorais aus Martinez, CA, USA; PSR J1624−4041: Xio of NYC und Hung Tran aus Chandler, AZ, USA; PSR J1650−4601: Syracuse University HTC Campus Grid, NY, USA und Eric Schwartz aus Vashon Island, WA, USA; PSR J1827−1446: der ATLAS-Cluster, AEI, Hannover, Deutschland; Igor Yakushin aus Chicago, IL, USA und das LIGO Laboratory, USA; PSR J1844−0346: Aurélien Faucheux aus Antibes, Frankreich und Roger Gulbranson, Ph.D. aus Wickliffe, OH, USA; PSR J2017+3625: Kurt Gramoll, Ph.D., University of Oklahoma, OK, USA und Michael Brandau aus Kassel, Germany.

Hintergrundinformation: Einstein@Home im Überblick

Das Projekt für verteiltes Rechnen verbindet PC-Nutzer aus der ganzen Welt, die freiwillig brachliegende Rechenzeit ihrer Heim- und Bürocomputer und Smartphones zur Verfügung stellen. Mit mehr als 440.000 Teilnehmern ist es eines der größten Projekte dieser Art. Die Gesamtrechenleistung liegt bei rund 1,6 petaFLOPS und würde Einstein@Home einen Platz unter den schnellsten 60 Rechner der Welt sichern.
Seit 2005 durchsucht Einstein@Home Daten der Gravitationswellendetektoren innerhalb der LIGO-Virgo-Science Collaboration (LVC) nach Gravitationswellen von unbekannten, schnell rotierenden Neutronensternen. Ab März 2009 widmete sich Einstein@Home auch der Suche nach Signalen von Radiopulsaren in Beobachtungen des Arecibo Observatoriums in Puerto Rico und des Parkes Observatory in Australien. Seit der ersten Entdeckung eines Radio-Pulsars im August 2010 mit Einstein@Home hat das weltweite Computernetzwerk insgesamt 55 Radiopulsare aus den Daten gefischt. Neu hinzugekommen ist im August 2011 ein Projekt zur Suche nach Gammapulsaren in den Daten des Fermi-Satelliten. Diese hat bislang 21 neue Gammapulsare entdeckt.
Wissenschaftlicher Träger sind das Center for Gravitation and Cosmology an der University of Wisconsin–Milwaukee und das Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut, Hannover) mit finanzieller Unterstützung der National Science Foundation und der Max-Planck-Gesellschaft.

Hintergrundinformation: Schritt für Schritt zum Ziel – die neuen Rechenmethoden

Ihre neuen Methoden verbessern die Suchempfindlichkeit ohne die Rechenkosten dafür zu erhöhen. Sie bestehen aus einem Anfangsschritt, der empfindlicher als in allen vorigen Einstein@Home-Suchen nach Gammapulsaren ist. Dieser erste Schritt produziert eine große Zahl vielversprechender Kandidatensignale, die dann mit einem noch empfindlicheren zweiten Folgeschritt untersucht werden. Dieser zoomt auf den Kandidaten zu und verringert die Unsicherheit in den astrophysikalischen Parametern des Pulsars. Der letzte Untersuchungsschritt wird nicht auf Einstein@Home, sondern auf dem Großrechner Atlas am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Hannover durchgeführt.

Wissenschaftliche Publikation: “The Einstein@Home gamma-ray pulsar survey I: search methods, sensitivity and discovery of new young gamma-ray pulsars”, The Astrophysical Journal, Volume 834, Number 2 (2017), http://iopscience.iop.org/article/10.3847/1538-4357/834/2/106, freier Zugriff auf dem arXiv: https://arxiv.org/abs/1611.01015


Wissenschaftlicher Kontakt:
Dr. Colin Clark
Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung „Beobachtungsbasierte Relativität und Kosmologie“
Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik Hannover
Telefon:+49 511 762-17187

Prof. Dr. Bruce Allen
Direktor der Abteilung „Beobachtungsbasierte Relativität und Kosmologie“, Direktor von Einstein@Home
Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik Hannover
Telefon:+49 511 762-17148

Medienkontakt:
Dr. Benjamin Knispel
Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik Hannover
Telefon:+49 511 762-19104

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