Bonn, 7. Oktober 2016 – Verletzungen des Rückenmarks
können Lähmungen verursachen und die Gesundheit auch in anderer Weise dauerhaft
beeinträchtigen, denn die geschädigten Nervenverbindungen wachsen nicht nach.
Nun ist es Wissenschaftlern des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative
Erkrankungen (DZNE) gelungen, eine molekulare Bremse zu lösen, die die
Wiederherstellung von Nervenleitungen verhindert. Die Behandlung von Mäusen mit
dem Wirkstoff „Pregabalin“, der die Wachstumsbremse beeinflusst, ließ verletzte
Nervenleitungen regenerieren. Ein Forscherteam um den Neurobiologen Frank
Bradke berichtet darüber im Fachjournal „Neuron“.
Die Nervenzellen des Menschen sind zu einem Netzwerk
verschaltet, dessen Ausläufer in alle Winkel des Körpers hineinreichen.
Steuersignale gelangen so vom Kopf bis in die Zehenspitzen – und
Sinneseindrücke strömen in Gegenrichtung zurück. Wie bei einem Staffellauf
werden dabei Impulse von Nervenzelle zu Nervenzelle weitergegeben. Wird dieses
Leitungssystem beschädigt, kann das drastische Folgen haben – besonders dann,
wenn Gehirn oder Rückenmark betroffen sind. Denn die Zellen des zentralen
Nervensystems sind über lange Fortsätze – sogenannte Axone – miteinander
verknüpft. Werden diese Fortsätze gekappt, wachsen sie nicht nach.
Talente wiedererwecken
Beschädigte Nervenleitungen können jedoch nur dann
regenerieren, wenn zwischen den betroffenen Zellen neue Verbindungen entstehen.
Dazu müssen die Zellen gewissermaßen ihre Arme ausstrecken, das heißt: die
Axone müssen wachsen. Zu Beginn der Embryonalentwicklung ist diese Fähigkeit
vorhanden, sie geht jedoch verloren, wenn das Nervensystem ausgereift ist.
Lässt sie sich reaktivieren? Diese Frage stellten sich Professor Bradke und
seine Kollegen. „Wir sind von der Hypothese ausgegangen, dass Nervenzellen ihr
Wachstumsprogramm aktiv runterregulieren, wenn sie andere Zellen erreicht
haben. Das geschieht, damit sie nicht über das Ziel hinausschießen. Demnach
sollte es eine Wachstumsbremse geben, die dann eingeschaltet wird, sobald sich
eine Nervenzelle mit anderen verknüpft hat“, sagt Dr. Andrea Tedeschi, Mitglied
im Team von Frank Bradke und Erstautor der aktuellen Veröffentlichung.
Fahndung im Erbgut
Im Organismus von Mäusen und in Zellkulturen starteten
die Wissenschaftler eine umfangreiche Suche nach Erbanlagen, die das Wachstum
von Nervenzellen regulieren. „Das glich der berühmten Suche nach der Nadel im
Heuhaufen. In einer Nervenzelle sind je nach Entwicklungsstadium hunderte von
Genen aktiv. Der bioinformatische Aufwand war erheblich. Dafür haben wir eng mit
Kollegen der Universität Bonn zusammengearbeitet“, so Bradke. „Letztlich
konnten wir einen aussichtsreichen Kandidaten identifizieren. Das Gen mit der
Bezeichnung Cacna2d2 spielt für die Ausbildung der Synapsen, also der
Verschaltung der Nervenzellen, eine wichtige Rolle.“ In weiteren Untersuchungen
veränderten die Forscher die Aktivität des Gens, indem sie es zum Beispiel
ausschalteten. So konnten sie nachweisen, dass sich Cacna2d2 tatsächlich auf
das Wachstum der Axone und die Regeneration von Nervenverbindungen auswirkte.
Pregabalin löste neuronales Wachstum aus
Cacna2d2 codiert den Bauplan eines Proteins, das
Bestandteil eines größeren Molekülkomplexes ist. Das Protein verankert in der
Zellmembran sogenannte Ionenkanäle, die den Einstrom von Kalzium-Teilchen in
die Zelle regulieren. Da sich die Kalzium-Konzentration unter anderem auf die
Freisetzung von Botenstoffen auswirkt, sind diese Kanäle essentiell für die
zelluläre Kommunikation.
Für weitere Untersuchungen griffen die Forscher auf eine
Substanz zurück, von der schon länger bekannt war, dass sie sich am molekularen
Anker der Kalzium-Kanäle festsetzt. Über mehrere Wochen hinweg verabreichten
sie Mäusen mit Rückenmarksverletzung den Wirkstoff Pregabalin (PGB). Wie sich
herausstellte, ließ diese Behandlung neue Nervenverbindungen entstehen.
„Unsere Studie zeigt, dass die synaptische Verschaltung
wie ein Schalter wirkt, der das axonale Wachstum abbremst. Dieser Effekt lässt
sich mit einem verfügbaren Medikament beeinflussen“, sagt Bradke. Tatsächlich
wird PGB schon jetzt bei Rückenmarksverletzungen eingesetzt. Allerdings als
Schmerzmittel und erst relativ spät nachdem die Verletzung stattgefunden hat.
„PGB könnte bei Patienten vielleicht einen regenerativen Effekt haben,
verabreicht man es früh genug. Daraus könnte sich langfristig ein neuer Ansatz
für die Therapie ergeben. Das lässt sich aber jetzt noch nicht einschätzen.“
Ein neuer Mechanismus?
In vorherigen Studien hatten die Bonner Forscher
nachgewiesen, dass manche Krebsmedikamente verletzte Nervenverbindung ebenfalls
regenerieren lassen. Hauptakteure sind dabei die „Mikrotubuli“, lange
Proteinkomplexe, die den Zellkörper stabilisieren. Wenn sie wachsen, treiben
auch die Axone aus. Wie hängen die verschiedenen Ergebnisse zusammen? „Wir
wissen nicht, ob diese Mechanismen voneinander unabhängig sind oder ob sie
ineinandergreifen“, sagt Bradke. „Das wollen wir uns künftig genauer
anschauen.“
Originalveröffentlichung
„The Calcium Channel Subunit Alpha2delta2 Suppresses Axon
Regeneration in the Adult CNS“, Andrea Tedeschi, Sebastian Dupraz, Claudia J.
Laskowski, Jia Xue, Thomas Ulas, Marc Beyer, Joachim L. Schultze, Frank Bradke,
Neuron, DOI: http://dx.doi.org/10.1016/j.neuron.2016.09.026
Medienkontakt:
Dr. Dirk Förger
DZNE, Pressesprecher
Phone:
+49 228 / 43302-260
E-Mail: dirk.foerger@dzne.de
Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen
e. V. (DZNE) erforscht die Ursachen von Erkrankungen des Nervensystems und
entwickelt Strategien zur Prävention, Therapie und Pflege. Es ist eine
Einrichtung in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren mit
Standorten in Berlin, Bonn, Dresden, Göttingen, Magdeburg, München,
Rostock/Greifswald, Tübingen und Witten. Das DZNE kooperiert eng mit
Universitäten, deren Kliniken und außeruniversitären Einrichtungen. Web: www.dzne.de | Twitter: @dzne_de | Facebook: www.dzne.de/facebook