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Arktischer
Flohkrebs. ©Alfred-Wegener-Institut
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Im und unter dem Meereis lebende Algen dienen auch Tieren aus größerer Tiefe als Energiequelle
Bremerhaven, 12. Juli 2016. Algen, die im und unter dem
Meereis leben, spielen eine viel größere Rolle für das arktische Nahrungsnetz
als bislang angenommen. In einer neuen Studie konnten Biologen des
Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
(AWI) erstmals nachweisen, dass sich nicht nur direkt unter dem Eis lebende
Tiere von den sogenannten Eisalgen ernähren. Auch Arten, die vorwiegend in
größeren Wassertiefen vorkommen, beziehen einen Großteil ihres Energiebedarfs
ursprünglich aus diesen Algen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der
Rückgang des arktischen Meereises weitreichende Folgen für das gesamte
Nahrungsnetz des Arktischen Ozeans haben kann. Ihre Ergebnisse sind jetzt
online im Fachjournal Limnology & Oceanography erschienen.
Das sommerliche Meereis in der Arktis schwindet rasant
und mit ihm der Lebensraum für Eisalgen. Die Folgen dieses Rückgangs für das
arktische Ökosystem sind schwer absehbar. Welche Bedeutung in diesem
Zusammenhang Eisalgen für das arktische Nahrungsnetz haben, konnten
Wissenschaftler des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und
Meeresforschung jetzt nachweisen. „In vielen Studien wurde bereits spekuliert,
dass Eisalgen eine wichtige Energiequelle für die polaren Ökosysteme sind. Wir
konnten jetzt zeigen, dass nicht nur Eis-assoziierte Tiere den Großteil ihres
Kohlenstoffbedarfs überwiegend aus Eisalgen beziehen, sondern
überraschenderweise auch Arten, die vorwiegend im freien Wasser, also meist in
größerer Tiefe, leben“, sagt Erstautorin Doreen Kohlbach.
In einer neuen Studie haben sie und ihre Kollegen
Ruderfußkrebse, Flohkrebse und Flügelschnecken aus dem zentralen Arktischen
Ozean auf ihre Abhängigkeit von Eisalgen untersucht. Von einer Reihe dieser
Tierarten ist bekannt, dass sie die Unterseite des Meereises als Lebensraum
nutzen. Viele andere Zooplanktonarten aber verbringen ihr gesamtes Leben
schwebend in Wassertiefen bis zu 1000 Meter und mehr.
„Wir wissen jetzt, dass Eisalgen eine viel wichtigere
Rolle für das pelagische Nahrungsnetz spielen als angenommen. Diese Erkenntnis
bedeutet aber auch, dass der Rückgang des Eises arktische Meeresbewohner wie
Fische, Robben und am Ende auch den Eisbären viel tiefgreifender treffen könnte
als bisher vermutet“, sagt Doreen Kohlbach.
Nachweisen konnte die AWI-Forscherin die enge Verbindung
zwischen Zooplankton und Eisalgen mithilfe von Fettsäuren als Biomarkern. Diese
werden in der Nahrungskette unverändert weitergegeben. Die für Eisalgen
typischen Fettsäuren können demzufolge anzeigen, ob ein Tier über die Nahrung
Kohlenstoff aus Eisalgen aufgenommen hat. Um zu bestimmen, wie hoch der Anteil
an Eisalgen-Kohlenstoff an der Nahrung genau ist, führte Doreen Kohlbach zusätzlich
eine Isotopen-Analyse an diesen Biomarkern durch. Hierbei machte sich die
Wissenschaftlerin die Tatsache zunutze, dass Eisalgen von Natur aus einen
höheren Anteil an schwerem Kohlenstoff in ihre Zellen einbauen als die frei im
Wasser lebenden Algen. Aus dem Verhältnis von schwerem zu leichtem Kohlenstoff
in den Biomarkern lässt sich so der genaue Anteil des Kohlenstoffs aus Eisalgen
in Organismen entlang des Nahrungsnetzes bestimmen.
Im Ergebnis zeigte sich, das Eis-assoziierte Tiere
zwischen 60 und 90 Prozent ihres Kohlenstoffs aus Eisalgen beziehen. Bei den in
größeren Wassertiefen lebenden Tieren lagen die Werte zwischen 20 und 50
Prozent – und damit deutlich höher als erwartet. „Persönlich überrascht war ich
vor allem vom Anteil im räuberischen Flohkrebs Themisto libellula, der im
Freiwasser lebt und nicht an der Eisunterseite jagt. Wie wir jetzt wissen,
stammen bis zu 45 Prozent seines Kohlenstoffgehalts aus Eisalgen, die wohl auf
dem Speiseplan seiner Beutetiere standen“, sagt AWI-Meereisökologe und Co-Autor
Dr. Hauke Flores. Zur Beute des räuberischen Flohkrebses gehören pelagische
Ruderfußkrebse, die wiederum einen Eisalgenkohlenstoffanteil von bis zu 50
Prozent aufwiesen, „obwohl wir angenommen hatten, dass sie sich hauptsächlich
von Algen aus der Wassersäule ernähren“, so Hauke Flores.
Die Zahlen sind noch vor einem anderen Hintergrund
überraschend: Eisalgen wachsen vor allem im Frühjahr, wenn wenig Licht durch
das noch dicke Eis dringt. Die Proben wurden hingegen im Sommer genommen – und
dennoch war der Anteil des Eisalgen-Kohlenstoffs in der Nahrungskette im
Verhältnis sehr hoch. Wie sehen die Zahlen in anderen Jahreszeiten aus, lautet
eine der Fragen, welche die AWI-Wissenschaftler sich nun stellen. Ebenso
interessiert sie, ob stärker zwischen den verschiedenen Eisalgen differenziert
werden kann und es womöglich eine Schlüsselalge gibt.
Mit der neuen Studie kann nun erstmals der Fluss des
Eisalgen-Kohlenstoffs durch das sommerliche Nahrungsnetz der Zentralarktis mit
konkreten Zahlen belegt werden. Diese Werte können AWI-Biologen in
Modellrechnungen nutzen, um die Folgen des Meereisrückgangs für das arktische
Ökosystem abzuschätzen.
Hinweise für Redaktionen:
Die Studie ist unter folgendem Titel frei zugänglich im
Fachjournal Limnology & Oceanography erschienen:
Doreen Kohlbach, Martin Graeve, Benjamin Lange, Carmen
David, Ilka Peeken, Hauke Flores: The importance of ice algae-produced carbon
in the central Arctic Ocean ecosystem: food web relationships revealed by lipid
and stable isotope analyses, Limnology & Oceanography, DOI: 10.1002/lno.10351 ; Link zur Studie: http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/lno.10351/full
Weiterführende Informationen zur Meereis-Biologie finden
Sie hier: http://www.awi.de/im-fokus/meereis/artikel/leben-im-und-unter-dem-eis.html
Ihre wissenschaftlichen Ansprechpartner am
Alfred-Wegener-Institut sind:
• Doreen
Kohlbach (Tel: +49 (0)471 4831 - 1085; E-Mail: Doreen.Kohlbach@awi.de)
• Dr. Hauke
Flores (Tel.: +49 (0)471 4831 - 1444; E-Mail: Hauke.Flores@awi.de)
Ihre Ansprechpartnerin in der Abteilung Kommunikation und
Medien ist Sina Löschke (Tel: +49 (0)471 4831 - 2008; E-Mail: medien@awi.de).
Das Alfred-Wegener-Institut forscht in der Arktis,
Antarktis und den Ozeanen der mittleren und hohen Breiten. Es koordiniert die
Polarforschung in Deutschland und stellt wichtige Infrastruktur wie den
Forschungseisbrecher Polarstern und Stationen in der Arktis und Antarktis für
die internationale Wissenschaft zur Verfügung. Das Alfred-Wegener-Institut ist
eines der 18 Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten
Wissenschaftsorganisation Deutschlands.