Mittwoch, 7. November 2012

Die ganze Welt in einer Bibliothek


 Fotograf: Leo Pompinon


Hochbegabungspresse Deutschland ist ein Einwanderungsland – 
das haben Bibliotheken längst erkannt. Viele von ihnen haben sich 
deshalb auf Nutzer verschiedener Herkunft eingestellt und ihr 
Angebot auf sie ausgerichtet.

Die junge Frau ist tief versunken in ihre Lektüre. Konzentriert schweift ihr Blick über die schwarzen Buchstaben. Hier in der Bibliothek am Luisenbad in Berlin-Wedding findet sie, was sie interessiert, gut sortiert – und in ihrer Muttersprache Türkisch. Im Moment ist das eine Hochzeits-Illustrierte. Die Bibliothek beherbergt rund 120.000 Medien, davon 5000 in türkischer Sprache. Dazu gehören CD’s, DVD’s, Zeitschriften, Tageszeitungen und Bücher.

Mit dem Schwerpunkt Türkisch hat sich die Bibliothek auf einen großen Teil der Bevölkerung im Stadtteil Wedding eingestellt. 48 Prozent der Bewohner im Kiez haben einen Migrationshintergrund, 18 Prozent einen türkischen. Für Bibliotheksleiterin Heidrun Hübner-Gepp ist deshalb nur logisch, dass sich diese Bevölkerungsgruppe auch in ihrer Bibliothek wiederfinden kann. Schon seit Jahren hält die Einrichtung ein mehrsprachiges Angebot bereit, neben dem Schwerpunkt Türkisch finden sich auch größere Bestände in arabischer, englischer oder französischer Sprache. Darüber hinaus verfügt die Bibliothek über einen kleineren Bestand von 30 bis 40 weiteren Sprachen, die alle im Kiez gesprochen werden.
Je mehr sich der Gedanke durchsetzt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, desto mehr stellen sich auch Bibliotheken auf Menschen mit Migrationshintergrund ein. 2006 richtete der Deutsche Bibliotheksverband e.V. (dbv) dafür die Kommission „Interkulturelle Bibliotheksarbeit“ ein. Sie unterstützt seitdem Bibliotheken deutschlandweit beim Aufbau eines interkulturellen Medien- und Veranstaltungsangebots.

„Besucher kommen von weit her“
Mit ihrer Auswahl an Medien in vielen unterschiedlichen Sprachen hat sich die Bibliothek am Luisenbad auch außerhalb des Bezirks einen Namen gemacht. „Einige Besucher kommen von weit her, um bei uns Medien auszuleihen, in Ruhe zu lesen oder zu lernen“, sagt Hübner-Gepp. Das Angebot wird rege genutzt. An den Tischen sitzen am Nachmittag viele Schüler, die ihre Hausaufgaben machen. In einem räumlich etwas abgetrennten Teil ist die Kinderbibliothek untergebracht. Dort geht es besonders lebhaft zu. Dass so viele Menschen unterschiedlicher Herkunft in die Bibliothek kommen, liegt neben dem fremdsprachigen Angebot auch an der intensiven Zusammenarbeit mit anderen Akteuren im Kiez. „Wir versuchen, die Menschen so früh wie möglich an die Bibliothek heranzuführen“, sagt die Bibliotheksleiterin. Viele Kinder besuchen die Bibliothek schon regelmäßig mit ihrer Kita-Gruppe. Dort wird beim Vorlesen und mit Spielen der Wortschatz der Kinder gestärkt. Auch mit Schulsozialarbeitern, Familienzentren und einem kulturellen Bildungsverbund in der Nachbarschaft arbeitet die Bibliothek zusammen.
Ebenso wie die Bibliothek am Luisenbad in Berlin-Wedding setzt auch die Stadtbücherei Frankfurt am Main intensiv auf die Zusammenarbeit mit anderen Kultur- und Bildungseinrichtungen, etwa mit der Volkshochschule, Migrantenvereinen, Mädchentreffs oder Sprachkursanbietern. „Kooperationen und Netzwerke sind ein wesentlicher Erfolgsfaktor unserer Arbeit“, sagt Birgit Lotz, Leiterin der Dezentralen Bibliotheken in Frankfurt.

In Zukunft könnte es sogar mehr Geld für Zusammenarbeit wie diese geben. Für das Konzept „Lesen macht stark: Lesen und digitale Medien“ wurden dem dbv umfangreiche Projektfördermittel durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung zugesprochen. Damit sollen „Lokale Bündnisse für Bildung“ zwischen Einrichtungen wie Musikschulen, Stadtteil-Initiativen, Kindergärten oder Schulen einerseits und Bibliotheken andererseits geschmiedet werden.

Basale Bildungsarbeit
Bis vor Kurzem hatte Birgit Lotz auch die Leitung der Kommission „Interkulturelle Bibliotheksarbeit“ beim dbv inne und ist damit Fachfrau auf diesem Gebiet. Bibliotheken leisteten einen wichtigen Beitrag zur Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund an Kultur und Gesellschaft ihres neuen Heimatlandes, sagt sie. Nicht nur mit der Bereitstellung von Medien in der Heimatsprache, sondern zum Beispiel auch beim Deutschlernen helfen sie. „Bibliotheken stellen Lehrmittel und zunehmend auch eLearning-Angebote bereit. In manchen finden auch Deutsch-Sprachkurse statt“, sagt Lotz. „Oft stößt man auch auf Menschen, in deren Heimatländern Bildung nur den Eliten vorbehalten ist. Bei ihnen wird dann auch ganz basale Bildungsarbeit geleistet.“

Herausforderungen für die interkulturelle Ausrichtung der Bibliotheken sieht Lotz vor allem bei der Schulung der Mitarbeiter. „Der zielgruppengerechten Vermittlung, etwa in speziellen Bibliothekseinführungen und der Veranstaltungsarbeit kommt eine wichtige Bedeutung zu“, sagt sie. Gleichzeitig zeigt jedoch der aktuelle Jahresbericht des dbv, dass in vielen Öffentlichen Bibliotheken die Budgets gekürzt werden.
Auch Heidrun Hübner-Gepp aus Berlin weiß, dass die Bibliothek ein einladender Ort sein muss. „Besonders für Menschen, die nicht gut Deutsch sprechen, ist es manchmal eine große Hürde, die Bibliothek überhaupt zu betreten“, sagt sie. Manche fühlten sich dann wie in einer Behörde, sobald sie mit den Anmelderegeln in Berührung kommen, und ergriffen lieber die Flucht. Da sei dann Fingerspitzengefühl der Mitarbeiter gefragt. Auch Kompetenzen wie das Beherrschen von Fremdsprachen und das Wissen, wo anderssprachige Bücher besorgt werden können und ob deren Qualität gut ist, seien in einer Bibliothek, die sich interkulturell öffnet, gefragt. „Dafür könnten wir gut zusätzliche Honorarmittel gebrauchen, um ab und zu Muttersprachler zu beschäftigen“, sagt Hübner-Gepp.
(Autor: dbv, Text mit Leerzeichen: 5489 Zeichen)


Die bundesweite Aktionswoche „Treffpunkt Bibliothek“ wird bereits zum fünften Mal vom Deutschen Bibliotheksverband e.V. (dbv) koordiniert. Vom 24. bis 31. Oktober 2012 präsentieren sich Bibliotheken in ganz Deutschland als Partner für Medien- und Informationskompetenz sowie für Bildung und Weiterbildung. Sie veranstalten Lesungen, Ausstellungen, Workshops, Events, Bibliotheksnächte und viele weitere Aktionen, die im gemeinsamen Terminkalender zu finden sind: www.treffpunkt-bibliothek.de.

Der Deutsche Bibliotheksverband e.V. (dbv)
Im Deutschen Bibliotheksverband e.V. (dbv) sind ca. 2.000 Bibliotheken aller Sparten und Größenklassen Deutschlands zusammengeschlossen. Der gemeinnützige Verein dient seit mehr als 60 Jahren der Förderung des Bibliothekswesens und der Kooperation aller Bibliotheken. Sein Anliegen ist es, die Wirkung der Bibliotheken in Kultur und Bildung sichtbar zu machen und ihre Rolle in der Gesellschaft zu stärken. Zu den Aufgaben des dbv gehört auch die Förderung des Buches und des Lesens als unentbehrliche Grundlage für Wissenschaft und Information, sowie die Förderung des Einsatzes zeitgemäßer Informationstechnologien.

Kontakt: Deutscher Bibliotheksverband e.V.
Barbara Schleihagen, Geschäftsführerin, Tel.: 030 / 644 98 99 12
E-Mail: dbv@bibliotheksverband.de, http://www.bibliotheksverband.de, http://www.bibliotheksportal.de